11.05.2024 – News – Tagesspiegel – Rüdiger Schaper — – Details
Carl Hegemann
Im Alter von 76 Jahren ist der Dramaturg Carl Hegemann gestorben. An der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wirkte er als philosophischer Bodyguard – und hatte immer ein Quantum Chaos parat.
Es ist schon wieder eine brutale Erinnerung an die legendären Zeiten der Volksbühne. Carl Hegemann, der Dramaturg, ist tot. Er starb am 9. Mai in Berlin an einem Herzinfarkt. Er wurde 76 Jahre alt. — «Dad Men Talking». Wie makaber das jetzt klingt! Beim Theatertreffen 2024 stand er selbst auf der Bühne, in Jette Steckels Tschechow-Inszenierung «Die Vaterlosen». Carl Hegemann führte, witzig und scharf, Gespräche mit älteren Herrschaften über Generationenprobleme.
Ein Virtuose mit den WortenEr war selbst ein Dad, seine Tochter Helene Hegemann ist eine erfolgreiche Schriftstellerin. Carl, wie ihn alle nannten, verstand es zu reden. Wenn das Wort eine Waffe sein kann, dann führte er eine scharfe Klingen, beherrschte Finten und Ausfälle. — Stetig unstet: Als Dramaturg arbeitete der gebürtige Paderborner bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, in Freiburg und Bochum, kurze Zeit auch am Berliner Ensemble, bei den Festspielen in Bayreuth und natürlich an der Volksbühne. 1992 tauchte er zum ersten Mal am Rosa-Luxemburg-Platz auf. Er blieb ein paar Jahre, er ging, kam wieder zurück, zog wieder davon. So war das an diesem Haus des Menschenfischers und Menschenwerfers Frank Castorf. — Man schlug sich, man vertrug sich. Es waren die bedeutendsten Jahre des Theaters in Berlin und weit darüber hinaus – wie Piscator in den Zwanzigern, Brecht und Weigel in den Fünfzigern, die Schaubühne in den Siebzigern. — Eng verbunden war Hegemann auch mit dem 2015 verstorbenen Bühnenbildner und Volksbühnendesigner Bert Neumann. Der berühmte «Leitbild»-Slogan stammt von den beiden. Selbst das verrückteste Theater steckt in Zwängen und läuft sich fest. Da war Carl Hegemann gefragt. Er konnte Knoten lösen, eine Unternehmung wieder flottmachen mit seinen Einsichten und Einfällen.
Er hatte das Quantum Chaos parat, das immer gebraucht wird und oft fehlt. Ein Philosoph, der die Praxis sucht, der nicht verwirrt, sondern Klarheit schafft. Das hat man nicht so oft. Und in seinem Fall ging es auch noch gut. — Geliebte, verdammte, hart geprüfte Volksbühne! So viele sind gegangen. Im Februar 2024 starb René Pollesch, der Intendant der Volksbühne und ihr verehrter Dramatiker. Damals schrieb Hegemann in der «Süddeutschen Zeitung» in einem Nachruf: «Das wirkliche Drama findet nicht auf der Bühne, sondern in uns selbst statt, in jedem einzelnen Menschen. Er braucht das Drama und die Tragödie nicht auf der Bühne abzubilden, weil beides in ihm und seinen Spielerinnen im Kopf vorhanden ist, es reicht, wenn er unsere inneren Widersprüche kommunikativ und diskursiv entfaltet.» — Carl Hegemann hat sich da auch ein wenig selbst portraitiert. Sein frei drehender Geist, seine diskursive Gabe animierten den Betrieb. In späteren Jahren wirkte er als Professor für Dramaturgie in Leipzig. Viele junge Theaterleute haben sich von ihm inspirieren lassen und bei ihm Rat gesucht. Man konnte, man musste gut mit ihm streiten. Es blieb kein Groll zurück. — Vor ein paar Wochen hat er mit Matthias Lilienthal telefoniert, Hegemann lud seinen alten Volksbühnen-Kollegen und designierten Intendanten am Rosa-Luxemburg-Platz zum Essen ein. «Ich will dir gar nicht bei der Volksbühne reinreden», sagte er dem Mitstreiter, «ich will dir nur die Weltlage erklären.» Das ist Carl Hegemann in ein bis zwei Sätzen. Das Theater. Die Welt. Die Gedanken im Gespräch, überraschend, entwaffnend. Mit Ironie, der es ernst war. —
SK-news