22.05.2025 – Welt der Musik – NDR Kultur – Elisabeth Richter — – Details
Dietrich Fischer-Dieskau
Er erreichte die Menschen im Innern ihrer Seele und traf einen Nerv der Zeit. — In der kleinen intimen Form des Liedes, die Menschen zu erreichen? Vielleicht hat ihn das Risiko gereizt. Denn da gibt es nur eine Chance: Entweder man schafft es, oder eben nicht, in den wenigen zerbrechlichen Minuten den Ton, das Gefühl, die Stimmung des Liedes zu treffen, diesen kleinen Kosmos zu vermitteln, in dem Wahrheiten über die eine oder andere Facette des Lebens verborgen sind. — Dietrich Fischer-Dieskau konnte es wie kein anderer. Die Musikwelt – die Presse, Künstler-Kolleg:innen – lobte seine «ganz seltene Meisterschaft» und pries ihn als «größten lebenden Liedsänger».
Künstlerisches Elternhaus und eine Spur zu BachDietrich Fischer-Dieskau, geboren am 28. Mai 1925 in Berlin, hat früh angefangen. Beim Singen hätten ihn Wonneschauer durchlaufen, erzählte er. Die Eltern erkennen sein Potenzial, er bekommt schon früh Gesangsunterricht. Musik, Kunst und Literatur – das Künstlerische überhaupt – gehören zum Alltag der Familie Fischer-Dieskau. Der Vater ist Obernstudiendirektor und Altphilologe. Aber am liebsten komponiert er. Die Mutter ist Pianistin, und sie singt leidenschaftlich gern. Außerdem gibt es da noch einen Vorfahren im 18. Jahrhundert: Für den Kammerherrn Carl Heinrich von Dieskau hat Johann Sebastian Bach seine Bauernkantate geschrieben. (…)
Mit seiner Liedkunst traf er einen Nerv der Zeit.
Dass er jedoch mit seiner Liedkunst die Menschen in aller Welt so stark berührte, liegt wohl auch an der seelischen Befindlichkeit der Menschen nach dem zweiten Weltkrieg. Die Musik und besonders die Intimität eines Liedes konnten vielleicht helfen, Empfindungen wahrzunehmen oder überhaupt zuzulassen. Das galt wahrscheinlich noch stärker für die Menschen in Deutschland, die sich nach dem Wahn des Nationalsozialismus fragen mussten, welche Rolle sie selbst dabei gespielt hatten, die ihre Identität neu finden mussten. Aber Dietrich Fischer-Dieskaus charismatischer Einsatz für die Lieder von Schubert, Schumann, Brahms und anderen – er hat weit über 3000 Lieder gesungen – trug auch dazu bei, dem Schreckgespenst des «hässlichen Deutschen», das nach 1945 in der Welt präsent war, etwas Positives gegenüberzustellen.
Prägend für jüngere Sänger-GenerationDer eine oder andere Kritiker regte sich über Fischer-Dieskaus Vortragsstil auf, fand ihn zu manieriert oder intellektuell, zu textbetont. Niemand kann jeden Geschmack befriedigen. Aber wie stünde es um den Lied-Gesang heute, hätte es nicht Dietrich Fischer-Dieskau gegeben? Jüngere Sänger, besonders natürlich Fischer-Dieskaus Bariton-Kollegen, etwa Christian Gerhaher und Matthias Goerne oder jüngere Sänger wie Benjamin Appl oder Konstantin Krimmel, würden Lieder von Schubert, Schumann, Brahms oder Wolf sicher ganz anders singen, ohne die prägende Interpretationskunst von Dietrich Fischer-Dieskau. — Gewiss passte nicht jede Opern-Rolle so gut zu Fischer-Dieskau wie etwa Verdis Falstaff, mit dem er am 31. Dezember 1992 in München bei einem Galaabend seine Sänger-Laufbahn beendete. In den Ruhestand ging Fischer-Dieskau damit jedoch nicht. Er wirkte weiter als Dirigent, als Autor, als Rezitator, als Lehrer. Bis zu seinem Tod am 18. Mai 2012, wenige Tage vor seinem 87. Geburtstag. Seine Vielseitigkeit, seine Neugier, Unbekanntes zu entdecken haben ihn immer weiter angetrieben, den Freuden und Leiden, den Rätseln des Lebens mit seiner Kunst nahe zu kommen.
SK-hehi