03.06.2025 – News – The New York Times – Jonathan Kandell — – Details
Pierre Nora
Als renommierter französischer Gelehrter und Verleger untersuchte er, was Gesellschaften beim Erzählen ihrer Geschichten würdigen – und was sie vergessen. — Pierre Nora im Jahr 2000. Er war nicht nur ein einflussreicher Gelehrter, sondern auch Mitbegründer einer der führenden intellektuellen Zeitschriften Frankreichs, Le Débat.
Pierre Nora, ein französischer Gelehrter, dessen Ideen zur Rolle von Erinnerung und Identität in der Geschichtsschreibung sowohl in Frankreich als auch im Ausland Beachtung fanden und der durch seinen großen Einfluss auf das Verlagswesen zu einer wichtigen Figur in der intellektuellen Gemeinschaft seines Landes wurde, starb am Montag in Paris. Er wurde 93 Jahre alt. — Sein Tod im Krankenhaus wurde von seinem Sohn Elphège Nora bestätigt, der als Todesursache multiples Organversagen angab. — Herr Noras wichtigster Beitrag zur Geschichtsschreibung war das Konzept der «lieux de mémoire» («Erinnerungsorte»). Dieser Begriff beschrieb Elemente der Vergangenheit, an die sich eine Gemeinschaft gerne erinnert und die zu Symbolen einer gemeinsamen Identität werden. Beispiele hierfür sind Jeanne d›Arc, die Nationalhymne «La Marseillaise» und der Hahn – «le coq gaulois» – als inoffizielles Symbol Frankreichs. — Dieses Konzept hatte großen Einfluss auf die Gedächtnisforschung und prägte in anderen Teilen Europas, der USA und Asiens die Diskussionen darüber, wie das Gedächtnis in Gesellschaften funktioniert, insbesondere darüber, wie Nationen sich erinnern und vergessen. — Herr Nora schrieb in einer Zeit, in der sich französische Wissenschaftler zunehmend für die Rolle von Sprache, Symbolen und Diskursen bei der Gestaltung sozialer Realitäten interessierten. Sein Geschichtsverständnis schien damals aktuelle Theorien wie den Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss und den Dekonstruktivismus von Jacques Derrida zu ergänzen. — Der Ansatz von Herrn Nora löste auch Debatten und Kritik aus, insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit, dass «Erinnerungsorte» die Geschichte übermäßig vereinfachen oder beschönigen und komplexere oder umstrittenere Aspekte der Vergangenheit verschleiern. — Über seine eigenen Schriften hinaus hatte Herr Nora großen Einfluss durch seine Tätigkeit als Redakteur bei einem führenden Buchverlag und als Mitbegründer einer der einflussreichsten intellektuellen Zeitschriften. Zwar versuchte er, in den Links-Rechts-Debatten, die die intellektuelle Gemeinschaft historisch polarisierten, weitgehend unparteiisch zu bleiben, doch hatte er erheblichen Einfluss darauf, welche Historiker, Philosophen oder Sozialdenker in Foren veröffentlicht wurden, die das größte Publikum erreichten. — Pierre Nora wurde am 17. November 1931 in Paris als jüngstes von vier Kindern – drei Brüdern und einer Schwester – des bekannten Urologen Gaston Nora und seiner Frau Julie (Lehman) Nora geboren. Während des Zweiten Weltkriegs floh die Familie, die von Generationen nordostfranzösischer Juden abstammte, von Paris nach Grenoble, in den Teil Frankreichs, der zunächst nicht von den Deutschen besetzt war.
Als Jugendlicher war Pierre Nora kein außergewöhnlicher Schüler. Dreimal fiel er bei der Aufnahmeprüfung zur École Normale Supérieure durch, einer der vielen Elite-Bildungseinrichtungen, aus denen die führenden Intellektuellen und Beamten des Landes hervorgingen. Stattdessen absolvierte er schließlich ein Bachelor-Studium in Geschichte und Philosophie an der Universität Paris (heute gibt es 13 verschiedene Universitäten, darunter die Sorbonne). — Herr Nora unterrichtete von 1958 bis 1960 zwei Jahre lang an einer weiterführenden Schule in Algerien, wo ein brutaler antikolonialer Krieg tobte. Auf der Grundlage seiner dortigen Erfahrungen veröffentlichte er 1961 das Buch «Die Franzosen in Algerien», das die algerischen Franzosen scharf kritisierte. Er behauptete, sie hätten wenig mit ihren Landsleuten in Frankreich gemeinsam. (…) «–
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