Der Mann, den Putin nicht töten konnte

06.06.2025NewsThe New York TimesM. Gessen —   –  Details

Christo Grozev

Meinung // Interpol suchte wochenlang nach einem in Ungnade gefallenen Finanzmanager, als der investigative Journalist Christo Grozev ihn in seinem Versteck in Weißrussland entdeckte. Grozev war Experte darin geworden, allen digitalen Spuren zu folgen – Handydaten vom Schwarzmarkt, Passagierlisten, Einwanderungsunterlagen –, um russische Spione zu enttarnen. Es handelte sich um Schläferzellen, die in westlichen Ländern lebten und sich als Einheimische ausgaben, oder um Personen, die weltweit auf die Jagd nach Dissidenten geschickt wurden. — Er identifizierte die Geheimdienstagenten hinter einem der aufsehenerregendsten Attentatspläne überhaupt: der Vergiftung des russischen Oppositionsführers Alexei Nawalny im Jahr 2020. Diese Enthüllung brachte Grozev ins Visier von Präsident Wladimir Putin. Er wollte Grozev töten lassen, und um dies zu erreichen, wandte sich der Kreml an niemand anderen als den flüchtigen Finanzier, der vom russischen Geheimdienst rekrutiert worden war. Nun begann der Mann, den Grozev verfolgt hatte, ihn zu verfolgen. Der Flüchtige beauftragte ein Team mit der Überwachung. — Die Mitglieder dieses Teams sitzen inzwischen hinter Gittern. Der Finanzier lebt in Moskau und besucht mehrmals wöchentlich das Hauptquartier der russischen Geheimpolizei. Grozev – noch immer sehr lebendig – stellt sich vor, wie der Mann seinen Vorgesetzten zu erklären versucht, warum seine Mission gescheitert ist. Das verschafft Grozev ein wenig Genugtuung. — Am 12. Mai verurteilte Richter Nicholas Hilliard vom Central Criminal Court in London nach einem langwierigen Prozess sechs Personen, allesamt bulgarische Staatsbürger, zu Gefängnisstrafen zwischen fünf und fast elf Jahren. Ihnen wurde unter anderem ihre Beteiligung an dem Mordkomplott gegen Grozev vorgeworfen. Die Gruppe hatte mehr als zwei Jahre lang von England aus agiert, wo der Anführer Räume voller gefälschter Ausweisdokumente und, wie die Staatsanwaltschaft es nannte, Überwachungsgeräte auf Polizeiniveau unterhielt. Neben der Spionage gegen Grozev und seinen Schreibpartner, den russischen Journalisten Roman Dobrokhotov, spionierten die Bulgaren einen US-Militärstützpunkt in Deutschland aus, auf dem ukrainische Soldaten ausgebildet wurden. Sie bespitzelten einen ehemaligen russischen Polizeibeamten, der nach Europa geflohen war. Und, was für Moskau am peinlichsten war: Sie planten eine Operation unter falscher Flagge gegen Kasachstan, einen Verbündeten Russlands.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten kam es in England zu mindestens zwei spektakulären tödlichen Operationen und über einem Dutzend weiterer verdächtiger Todesfälle, die mit Russland in Verbindung gebracht wurden. Und doch scheint der Prozess gegen diese sechsköpfige Zelle das erste Mal in der jüngeren Geschichte zu sein, dass die Behörden erfolgreich gegen auf britischem Boden operierende russische Agenten ermittelt und diese strafrechtlich verfolgt haben. Der Prozess und sein Ausgang sind also Erfolge. Allerdings sind sie im Verhältnis zum Ausmaß der Bedrohung gering. Die Bulgaren scheinen nur ein Teil einer mehrjährigen, mehrere Länder umfassenden Operation zur Tötung Grozevs zu sein. Diese wiederum ist nur ein kleiner Teil einer scheinbar immer weiter ausgreifenden Kampagne des Kremls, die Entführungen, Vergiftungen, Brandstiftungen und Terroranschläge umfasst, um seine Gegner zum Schweigen zu bringen und im Ausland Angst zu verbreiten. — Die Geschichte der Mittel, die eingesetzt wurden, um eine einzelne unbequeme Stimme zum Schweigen zu bringen, ist eine erschreckende Erinnerung daran, wozu Putin und darüber hinaus die heranwachsende Generation autokratischer Herrscher fähig sind. Die Geschichte, wie sich diese einzelne Stimme weigerte, zum Schweigen gebracht zu werden – ja, ihre Entschlossenheit, die Wahrheit zu sagen, ungeachtet der realen Konsequenzen, verdoppelte – erinnert daran, dass es möglich ist, auch angesichts tödlicher Gefahr weiter zu sprechen und zu handeln. Doch der Schaden, der Grozevs Leben und dem Leben seiner Mitmenschen zugefügt wurde, ist eine Warnung, wie verwundbar wir angesichts ungezügelter, mörderischer Macht sind. (…)

Grozev ist klar, dass er und vielleicht noch mehr der Russe Dobrokhotov überall in Europa in Lebensgefahr sind. Die Vereinigten Staaten waren einst sicher. Doch selbst unter der Biden-Regierung saßen viele russische Dissidenten in ICE-Haft. Die Trump-Regierung drohte mit der Abschiebung mindestens einer Dissidentin nach Russland, wo sie mit ziemlicher Sicherheit inhaftiert würde. Die Foreign Influence Task Force des FBI, die früher ausländische Dissidenten in den USA schützte, wurde aufgelöst. Was wäre, wenn die Trump-Regierung beschließen würde, Putin etwas Gutes zu tun? — Grozev erinnerte mich daran, dass auch ich ein schönes Geschenk sein könnte, da in Russland ein Haftbefehl gegen mich vorliegt. Ich wies darauf hin, dass er noch stärker gesucht werde. Aber wohin sollte er gehen? «Es beunruhigt mich, nicht zu wissen, wo mein Zuhause ist», sagte Grozev. — Seine Tochter steht kurz vor dem Abitur, sein Sohn macht gerade sein Medizinstudium. Lange Zeit waren beide davon ausgegangen, ihrem Vater in die USA folgen zu können, doch das schien nicht mehr selbstverständlich. Nichts geschah. — «Ist Ihre Frau noch Ihre Frau?», fragte ich. — «Ich glaube schon», sagte Grozev. «Wir sehen uns nicht, aber wir sind sehr befreundet.» — Grozev hat diese Runde in jeder Hinsicht gewonnen. Er lebt. Marsalek sitzt in Russland fest, und seine Gefolgsleute sitzen in England im Gefängnis. Doch Grozev hatte für sein Überleben den Preis bezahlt: seine Familie, sein Zuhause und die Möglichkeit, sich überall auf der Welt sicher zu fühlen. —

 
 

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