Christoph Hein: Habe Sorge, dass dieser Verteidigungskrieg den Dritten Weltkrieg auslöst

04.04.2023NewsBerliner ZeitungUlrich Seidler —   –  Details

Christoph Hein

Am Abend des 3. April 2023 hielt der Schriftsteller Christoph Hein in der Staatskanzlei von Sachsen-Anhalt eine Rede zum Thema: «Was steht Deutschland und der Welt in den nächsten Jahrzehnten bevor?». Anlass war die Veranstaltung «Sachsen-Anhalt Premium», die an die Erstgründung des Landes vor 76 Jahren erinnern soll. Hein, 78, einer der berühmtesten deutschen Schriftsteller, hat der Berliner Zeitung seine Rede exklusiv zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. — Was steht Deutschland und der Welt in den nächsten Jahrzehnten bevor?

Es ist eine Frage, die uns beschäftigt, aber bei der wir wenige Kenntnisse haben und ebenso unwissend und beschränkt sind wie der dänische Physiker und Nobelpreisträger Niels Bohr, der – befragt, was kommen wird – nur sagen konnte: «Prognosen sind immer schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.»

Hilfreich ist möglicherweise ein Blick in die Vergangenheit, denn auch unsere Vorfahren wussten nichts von ihrer Zukunft. Wir aber wissen, was für sie folgte, und wir können vielleicht aus dem, was sie zu Lebzeiten für die kommenden Zeiten annahmen, vermuteten, ersehnten oder befürchteten, Aufklärung für unser, uns unbekanntes, verborgenes Futurum erhalten. Freilich mit einer Fortschreibung der Vergangenheit allein bekommen wir keinen Blick auf die Zukunft. Doch der Blick zurück kann den Blick nach vorn schärfen. — Russland ist ein Aggressor, schuldig mehrerer Kriegsverbrechen, denn neben der Ermordung von Zivilisten und der Verschleppung ukrainischer Kinder ist auch der Einsatz der irregulären (Wagner-)Truppe ein Kriegsverbrechen. Die Ukraine führt einen gerechten, einen überaus gerechten Krieg. Doch die immense Unterstützung, die die Nato der Ukraine zukommen lässt, ängstigt viele, denn in den letzten Monaten ging die Nato sukzessive immer weiter auf die ukrainischen Forderungen nach Kriegsgerät und Munition ein. Auch meine Sorge ist, dass dieser von der Nato unterstützte Verteidigungskrieg den Dritten Weltkrieg auslöst. — Die christlichen Kirchen benennen sieben Hauptsünden, die den geistigen Tod und die ewige Verdammnis zur Folge haben. Diese Todsünden sind Hochmut und Geiz, Wollust und Neid, Völlerei, Zorn und die Trägheit des Herzens. Diese Todsünden gefährden das Individuum. Jedoch die schlimmste Sünde, die nicht allein für das menschliche Individuum, sondern für die Menschheit Tod und Verdammnis bringt, das ist die Habgier. Unsere Gier. Unser aller Gier. — Doch wenn wir unsere Welt und uns selbst ertränken, wenn unsere Städte in den von uns verursachten Fluten versinken, wenn die Wälder in ihnen untergehen, wenn die Singvögel und alles Getier und jede Pflanze ersäuft werden, wenn der Frühling für alle Zeiten erlischt, wenn Shakespeares Werke und die Bilder und Statuen Michelangelos, wenn die Musik eines Johann Sebastian Bachs für immer und für alle Ewigkeit vernichtet sind, wenn wir unsere Kinder umbringen, unsere Kindeskinder, unsere eigenen Urenkel, dann werden die großen Meere zusammenfließen und diese Erde bedecken als ein einziges Weltmeer. — Das haben wir in Deutschland mehrfach erlebt, wo nach 1945 begeisterte Hitler-Verehrer oder Mitläufer plötzlich fanatische Anhänger der westlichen Demokratie wurden oder der sozialistischen Weltmacht, wo der Geheimdienst der Faschisten sich – ohne das Personal auszutauschen – wandelte zur demokratischen Organisation Gehlen. Übernommen vom führenden Personal der Nazis wurden ebenso die Juristen, Professoren, Ärzte. — Konrad Adenauer begründete diese seltsame Kontinuität mit dem Satz: «Ich kann das schmutzige Wasser nicht wegschütten, bevor ich kein sauberes habe.» Ein Satz, der allen Gesetzen der Hygiene widerspricht. Und Folgen hatte. Wie sonst ist es zu erklären, dass ein Mann wie Hans-Georg Maaßen Präsident des Verfassungsschutzes werden konnte? Die übernommenen Nazis sorgten dafür, dass ihre Nachfolger Personen ihresgleichen waren, so dass auch Jahrzehnte nach dem Ende des Dritten Reichs in dem sauberen Wasser noch immer Reste der alten Brühe zu finden sind. — Oder wo auf der anderen Seite gläubige Hitler-Anhänger plötzlich glühende Verehrer Stalins wurden und nun ausgrenzten und verfolgten, was der neuen Doktrin nicht entsprach, das konnten Bürger mit christlichem Glauben sein oder Personen, die die westliche Kunst und Musik bewunderten und liebten, oder auch junge Männer mit langen Haaren. — Und einen erstaunlichen Wechsel, einen manchmal tragischen Wechsel, häufig tragikomischen und gelegentlich lächerlichen Wechsel von der alten zur neuen Richtung haben wir wohl alle seit 1990 erleben können. — Alles bleibt

in seinem Grundverhalten,

wendet sich nur von der alten

einer neuen Richtung zu.

 
 

SK-


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