Der entführte Westen / Der vergessene Raum hinter dem Eisernen Vorhang

22.12.2023NewsZeit OnlineThomas Schmid —   –  Details

Milan Kundera

Gegen den russischen Imperialismus: Milan Kunderas Essay von 1983 über Mitteleuropa ist heute aktueller denn je. — Mit dem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins wurde der tschechische Schriftsteller Milan Kundera, in Westeuropa zuvor eher ein Geheimtipp, schnell weltberühmt. Der eingängige, etwas erotisierte Liebes- und Liebschaftenroman aus dem Jahr 1984, der in den Jahren um den Prager Frühling herum in Prag und der Schweiz spielt, hat inzwischen etwas Patina angesetzt. Ganz und gar nicht gilt das für Kunderas ein Jahr zuvor erschienenen Essay Der entführte Westen. Zuerst in der französischen Zeitschrift Débat publiziert, liegt er jetzt erstmals in einer vollständigen deutschen Übersetzung vor, ergänzt um einen Vortrag des Autors über Die Literatur und die kleinen Nationen. Es gibt wenige Essays, die nach vierzig Jahren an Aktualität nicht nur nicht verloren, sondern sogar gewonnen haben. Dieser zählt dazu. Nirgendwo sonst konnte man damals, Jahre bevor die Ukraine unabhängig wurde, Sätze wie diesen lesen: «Die Ukraine, eine der großen europäischen Nationen, ist im Begriff, langsam zu verschwinden. Und dieser ungeheuerliche, nahezu unglaubliche Vorgang vollzieht sich, ohne dass die Welt es bemerkt.» Scharf diagnostizierte Kundera den unbedingten Willen Moskaus, selbstständige Nationen in seinem Einflussbereich keinesfalls zuzulassen und Mitteleuropa, das sich die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg einverleibt hatte, nie wieder aus den Händen zu geben. — Die große Stärke von Kunderas Essay liegt in der Klarheit, mit der er Mitteleuropa, den Raum zwischen Deutschland und Russland, Gestalt werden lässt. Als eine Einheit, die nicht zurückgeblieben war, sondern der Welt etwas zu sagen hatte. Kundera, 1929 geboren, war zu Anfang ein durchaus systemkonformer Schriftsteller, 1964 wurde er mit dem Staatspreis der SSR ausgezeichnet. In den Folgejahren wandte er sich jedoch immer entschiedener vom kommunistischen Regime mit seiner Politik der Sowjetisierung ab. Den Einmarsch der Roten Armee, der dem Prager Frühling ein blutiges Ende bereitete, erlebte er als einen Wendepunkt seines Lebens. Nachdem er mit einem Publikationsverbot belegt worden war, wanderte er nach Frankreich aus, wo er bis zu seinem Tod im Juli dieses Jahres lebte. — Kunderas Mitteleuropa-Essay liest sich als eine verzweifelte Klage. Voller Trauer darüber, dass der kulturelle Raum zwischen dem Eisernen Vorhang und der Sowjetunion nach 1945 aus dem Bewusstsein der Westeuropäer so gut wie verschwunden ist. (…) Der Mitteleuropa-Essay des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera (hier fotografiert in Frankreich, 1979) liest sich als eine verzweifelte Klage.

 
 

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