Vincent von Wroblewsky: Sartre wollte einen modernen Marxismus

24.10.2017NewsPhilosophie MagazinVincent von Wroblewsky – Catherine Newmark —   –  Details

Jean-Paul Sartre / Daniel Cohn-Bendit

Sartres politisches Engagement führt ihn schon früh in eine Weggenossenschaft mit den Kommunisten. Wie aber lassen sich existenzialistische Freiheitsideale mit marxistischer Systemkritik verbinden? Ein Interview mit dem Philosophen und Übersetzer Sartres Vincent von Wroblewsky. —

Wie kommt Sartre von seinem existenzialistischen Freiheitsverständnis zum Marxismus, der sein späteres Werk prägt? Dass er sich in den fünfziger und sechziger Jahren dem Kommunismus zuwendet, mehrfach in die Sowjetunion reist … Steht sein existenzialistisches Freiheitsverständnis nicht im Widerspruch zum marxistisch-leninistischen Dogmatismus?

Doch, natürlich! Den Dogmatismus hat Sartre immer abgelehnt. Sartre beschreibt sich selbst schon früh als anarchistisches Individuum oder als individueller Anarchist, der es nicht akzeptieren konnte, von irgendjemandem Befehle zu bekommen, sich zu unterwerfen – und auch nie jemandem Befehle geben wollte. Das war ihm gleichermaßen zuwider. — Wie kommt dann aber dieser Übergang zustande von einem individuellen Anarchismus hin zu einem organisierten politischen Ansatz?

Man kann das in der Entwicklung von Sartres Denken recht genau beobachten, nämlich in seinen Kriegstagebüchern von 1939/1940, die für mich zum Spannendsten zählen, was Sartre geschrieben hat, weil man hier alles, wie in einem Laboratorium, im Entstehen verfolgen kann. Man sieht nicht nur das Ergebnis, sondern den Prozess einer Auseinandersetzung, die Entwicklung seines Denkens. Der Krieg und die Kriegsgefangenschaft sind ein Erlebnis, das Sartre vor Fragen stellt. Der Kern seines Denkens ist die Freiheit. Aber gerade die Kriegssituation stellt ihn vor die Frage: Wie kann ich diese Freiheit leben? Als historisches Subjekt, das sich in Situationen wiederfindet, über die es nicht entschieden hat? Da stellt sich die Frage der Authentizität in verschärfter Weise. Wie kann man innerhalb der Historizität authentisch sein?

Wie beantwortet Sartre diese Frage für sich?

Während der Besatzung versucht er, sich Widerstandsgruppen anzuschließen, was mehr oder weniger gelingt. Er bemerkt dann, nach 1945: Mein Widerstand war begrenzt. Fast könnte man sagen, er hat ein schlechtes Gewissen und will kompensieren. Jedenfalls bekommt für ihn dann die Konzeption des Engagements eine ganz starke Bedeutung, auf allen Gebieten: die engagierte Literatur, die Verantwortung des Schriftstellers, die Kritik an den Schriftstellern, die nicht begriffen haben, dass das, was sie schreiben, eine Wirkung hat. Und er sucht Menschen, die das, was er erkannt hat, was er nun will – eben nicht mehr nur individuell, isoliert frei sein, sondern historisch wirksam werden –, auch wollen, und die Gefährten werden können. So kommt er zu den Kommunisten, die ja einen wesentlichen Anteil am französischen Widerstand hatten. — Aber der stalinistische Kommunismus steht doch quer zu seinen Freiheitsvorstellungen?

Gewiss. Aber er sieht eben auch deutlich, dass er sich die Geschichte und die Subjekte nicht aussuchen kann. Sie sind da. Bei den real vorhandenen Bedingungen muss man sich fragen: Wie entscheide ich mich, wie kann ich wirksam werden innerhalb der historischen Situation, in der ich mich befinde. Und in dem entstehenden Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion sieht er sich trotz aller Vorbehalte mehr bei den Kommunisten. — Er ist also der Meinung, dass er seine Ideale und Ziele besser mit den Kommunisten als innerhalb des westlichen Liberalismus erreichen kann?

Ja. Zumal die Politik der Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt eben auch nicht besonders liberal war. Desgleichen die französische Innenpolitik der Zeit. Da gab es ja auch abstruse Sachen, wie etwa die Verhaftung von Jacques Duclos, dem damaligen Fraktionsvorsitzenden der Kommunistischen Partei Frankreichs, mit dem fadenscheinigen Vorwand, dass die Tauben, die er im Auto hatte, Brieftauben seien, mit denen er nach Moskau geheime Nachrichten übermitteln wollte – also ein Beweis für Spionage. Das waren zum Teil schon sehr groteske Begebenheiten während des Kalten Krieges …

Die keine der beiden Seiten im Kampf der Systeme als besonders attraktiv erscheinen lassen …

Sartre sucht zunächst auch nach Alternativen. Ganz wichtig ist die kurze Phase 1948, als er im Rassemblement démocratique révolutionnaire eine politische Organisationsform gefunden zu haben meint, die einen dritten Weg darstellt. Die nicht kapitalistisch, kommunistisch oder gar stalinistisch ist, die nicht dogmatisch ist, sondern sowohl individuelle Freiheit hochhält als auch Organisationsformen, über die man entscheiden kann und aus denen man auch jederzeit austreten kann. Es kommt dann jedoch sehr schnell zum Streit mit seinen Mitstreitern, David Rousset und anderen. Und dann folgt die allerdings auch sehr begrenzte Phase der Weggenossenschaft mit den Kommunisten. Aber auch in dieser Zeit engagiert sich Sartre vor allem für die Weltfriedensbewegung. Der Hintergrund ist hauptsächlich die Atombombe, die für ihn auch in theoretischer Hinsicht eine große Rolle spielt. Denn mit der Atombombe ist eine völlig neue historische Situation gegeben: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die Menschheit die Möglichkeit, sich selbst zu zerstören – Selbstmord zu begehen, womit sie ein für ihr Fortleben verantwortliches Subjekt wird. 1956, nach dem sowjetischen Einmarsch in Budapest, wendet sich Sartre dann allerdings entschieden vom Kommunismus ab. Er schreibt den Aufsatz Le fantôme de Staline, eine sehr scharfe Kritik an der Politik der Sowjets.

— (…)

— Das erscheint auch mit Blick auf heutige Debatten um sogenannte «Identitätspolitik» aktuell, wo ja gerne unterschiedliche diskriminierte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. — Ja, unbedingt! Und in diesem Sinne halte ich Sartre auch durchaus noch für einen Denker, der aktuelle Bedeutung haben kann. Er stellt zumindest die richtigen Fragen. Was kann und muss die Rolle des Individuums sein? Wie können sich Gruppen bilden, die gemeinsam gegen Widerstände kämpfen, aber immer letztlich doch die Freiheit des Individuums im Blick haben? Wie muss eine Gesellschaft strukturiert sein, damit die Individuen größtmöglichen Raum haben, und zwar nicht gegeneinander, sondern miteinander? Das sind alles komplizierte Fragen! Und es sind Fragen, für die es keine einfachen Antworten gibt, aber man kann dafür bei Sartre unbedingt Anregungen finden. •

1939 in Frankreich geboren, lebt Vincent von Wroblewsky seit 1950 in (Ost-)Berlin. Seit seiner Promotionsarbeit über Jean-Paul Sartre 1975 hat er breit zu Sartre geforscht und publiziert, seit 1991 ist er der Übersetzer und Herausgeber von Sartre im Rowohlt Verlag und seit 1993 Präsident der Sartre-Gesellschaft in Deutschland. —

 
 

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